Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hat gewagt, was vorhersehbar und folgerichtig zu ihrer Versetzung auf die öffentliche Strafbank geführt hat: Gemeinsam mit dem promovierten Philosophen und Rußland-Kenner Hauke Ritz hat sie ein Buch verfaßt, das die verordnete Lesart des Ukraine-Kriegs gründlich gegen den Strich bürstet. Sie erkennt eine Stimmungsmache wie 1914: „Wohin man schaut, überschwengliche Parteinahme für die Ukraine, völlige Dämonisierung des Gegners, Reduzierung des Feindes auf eine Person (Putin), fehlende Kontextualisierung, klare Teilung in Gut und Böse, empörte Abwehr von Mitverantwortung, Moral statt Geostrategie.“
Guérot und Ritz haben zwei Motivstränge miteinander verknüpft: Erstens die Einsicht, „daß die EU als politisches Projekt gescheitert ist; zum anderen, daß das Rußland-Bild im Westen falsch oder doch zumindest unzureichend ist“. Beide stehen in dialektischer Wechselbeziehung: Ihr Scheitern macht die EU unfähig, im Ukraine-Krieg eine eigenständige Position zu beziehen und befriedend auf den Konflikt einzuwirken. Das Andauern des Krieges wiederum macht ihr Scheitern perfekt. So wird der geopolitische Konflikt für Europa zum „Endspiel“ mit der Aussicht, endgültig zum Vorfeld und zur Verfügungsmasse der USA zu degenerieren. Der Einwand, daß Europa und die EU nicht miteinander identisch sind, darf hier unberücksichtigt bleiben.
Ein „amerikanischer Stellvertreterkrieg“
Was in den Medien durchweg „Putins Angriffskrieg“ genannt wird, ist bei Guérot und Ritz „ein lang vorbereiteter amerikanischer Stellvertreterkrieg“, dessen Wurzeln bis in die frühen 1990er Jahre zurückreichen. Sie haben Bücher, Aufsätze und Verlautbarungen US-amerikanischer Vordenker und Strategen gesichtet und den Extrakt daraus gezogen. Sie zitieren Zbigniew Brzeziński, George Friedman, Robert Kagan, Charles Krauthammer und Paul Wolfowitz.
Letzterer war unter George W. Bush stellvertretender Verteidigungsminister und entschlossen, „jede feindliche Macht daran zu hindern, eine Region zu beherrschen, deren Ressourcen unter konsolidierter Kontrolle ausreichen würden, globale Macht zu erzeugen“. Als Feind wird jeder betrachtet, der den Versuch unternimmt, eine den USA vergleichbare Macht zu generieren. Während die USA nach 1989 umgehend Europa als potentiellen Konkurrenten erkannten, pflegten die Europäer ein „Einheits-Denken“ über die sogenannte westliche Wertegemeinschaft. Die Strategie Washingtons, Europa von den russischen Ressourcen durch einen Cordon sanitaire zu trennen, blieb unreflektiert.
Ukraine wird völlig von den USA abhängig sein
Zur US-Strategie gehörten die „Farbrevolutionen“ und „Regime-Changes“ in den ehemaligen Sowjetrepubliken. In den mittelosteuropäischen Ländern besetzten unterdessen „junge, amerikanisierte Eliten mit Harvard- und Washington-Connections“ Spitzenfunktionen im Staat und in den Medien, „prototypisch zum Beispiel Radek Sikorski, der spätere polnische Außenminister“, der die Sprengung der Nord-Stream-Leitungen auf Twitter mit einem „Thank you, USA“ quittierte.
Barack Obama rühmte die Fähigkeit der USA, „die weltweite öffentliche Meinung zu formen, (sie) hat geholfen, Rußland völlig zu isolieren“. Die Brandstiftung des Gewerkschaftshauses in Odessa 2014 durch ukrainische Nationalisten, bei der 48 Russen ums Leben kamen, geriet so völlig aus dem Fokus. Das Minsker Abkommen, das eine föderale Struktur des Landes mit mehr Autonomie für die Ostukraine vorsah, wurde unter dem Einfluß Washingtons sabotiert, denn um die Ukraine zum militärischen Aufmarschgebiet der Nato zu machen, wird eine straffe Kiewer Zentralmacht benötigt.
So erscheint „Putins Angriffskrieg“ eher als Defensivschlag, um der Nato-Umklammerung zu entgehen. Das Ergebnis ist eine schwer kriegsbeschädigte, enorm verschuldete Ukraine, die politisch völlig von den USA abhängig ist. Die Autoren fragen: „Kann Europa einen derartigen Vasallen in seiner Mitte wollen?“
USA seien heute kulturell ausgelaugt
Es wird ihn wohl wollen müssen. Wenn es zwischen den USA und Deutschland tatsächlich einmal hart auf hart geht, legen die Amerikaner Geheimdienstmaterial auf den Tisch und es heißt, „entweder macht ihr mit oder ihr seid dran“. In diesen Worten faßte 2013 Günter Heiß, damaliger Koordinator für deutsch-amerikanische Beziehungen, in der ARD-Sendung „Beckmann“ seine Erfahrungen mit der westlichen Führungsmacht zusammen.
Für Guérot kommen die USA als Gralshüter der „westlichen Werte“ nicht mehr in Frage, sie seien heute „sozial verwahrlost und kulturell ausgelaugt“. Überhaupt sei die Wirklichkeit im Westen durch Wokeness, Redeverbote, Cancel Culture, Zensur-Methoden, Kontokündigungen, die digitale und biometrische Überwachung, Staatsjournalismus und Psychokrieg gegen die eigene Bevölkerung gekennzeichnet.
Keine Frage, die Frau und ihr Co-Autor haben Courage! Ihr Buch ist anregend, doch es ist auch angreifbar. Als läßlicher Flüchtigkeitsfehler mag durchgehen, wenn es heißt, der französische Präsident François Mitterrand sei als Gegner der Wiedervereinigung im März 1990 zu Egon Krenz in die DDR gefahren. In Wahrheit weilte Mitterrand bereits im Dezember 1989 in Ost-Berlin. Zu dem Zeitpunkt war Krenz schon nicht mehr im Amt, der Gesprächspartner war Ministerpräsident Hans Modrow.
Antinationalstaatliche Träumereien
Gravierend wirkt sich Guérots berühmt-berüchtigte postnationale Euphorie aus, die aus Prinzip keine Grenzen kennt. Da Deutschland es sträflich unterlassen habe, von Anfang an in eine Euro-Transfers-Union einzuwilligen, soll nun der Krieg, der „um eine historisch geradezu absurde territoriale Integrität der Ukraine“ geführt wird, die überfällige „europäische Katharsis“, nämlich die Auflösung nationalstaatlicher Strukturen, herbeiführen. Ein Anfang sei bereits gemacht, denn die Entscheidung, ukrainische Flüchtlinge unbesehen in das deutsche Hartz-IV-System zu übernehmen, sei „eigentlich schon ein Vorbote davon, bei Bürgerrechten nicht mehr nach Nationalität zu differenzieren“.
Solche kruden Träumereien lassen sich sinnvoll nicht kritisieren. Historisch gesehen ist nahezu jede Grenze in Europa absurd. Doch was folgt daraus? Statt mit Feinarbeit wartet Guérot zum Schluß mit Bulldozer-Logik auf und walzt ihre und Ritz’ überzeugende Intervention gegen die offizielle Lesart des Ukraine-Krieges zur Hälfte wieder platt. Ihren Gegnern macht sie es damit leicht, den Einverstandenen dagegen schwer.
JF 51/22